Wenige Monate nachdem Baden-Powell 1908 sein Buch „Scouting for Boys“ veröffentlicht hatte, gelangte ein Exemplar an den Hof des russischen Zaren Nikolaus II. Der Zar war von dem Buch so beeindruckt, dass er eine Übersetzung ins Russische anordnete. Sie erschien unter dem Titel Юный Разведчик (Yuny Razwedtschik oder Junger Pfadfinder). Das Buch sollte auf Befehl des Zaren bei der Poteschni Jungenorganisation verwendet werden (ursprünglich waren die Poteschni junge Soldaten zur Zeit Peter des Großen). Im Gegensatz zu den Pfadfindern war die Poteschni Jungenorganisation militaristisch geprägt.
Oleg Pantjuchow (Bildmitte) 1916 mit St. Petersburger Pfadfindern Oleg Pantjuchow 1930 im Exil
Der Offizier Oleg Iwanowitsch Pantjuchow hörte von BiPi´s Buch und kaufte sich ein Exemplar. Er erkannte sehr schnell, dass die von Baden-Powell erdachte Erziehungsmethode auch für die russische Jugend hilfreich sei. Nachdem er als Oberst in die Zarengarde abkommandiert worden war, gründete er am 30. April 1909 den ersten russischen Pfadfinderstamm in Pawlowsk. Dies ist ein Städtchen nahe Zarskoje Selo (in sowjetischer Zeit „Puschkin“ genannt), einer ehemalien Sommerresidenz der russischen Zaren. Der Ort liegt südlich St. Petersburg. Pantjuchow nannte den Stamm Бобр ( Bobr oder Bieber). Bis Jahresende gehörten dem Stamm etwa 120 Jungen an.
Zu den ersten Pfadfindern in Russland gehörte auch der Zarewitsch Aleksej. Eine Teilnahme an Pfadfinder - Aktivitäten dürfte ihm jedoch verboten worden sein, da er an der Bluterkrankheit litt.
Zar Nikolaus II. (2. Reihe, Mitte), rechts hinter ihm Oleg Pantjuchow um 1916
Zarewitsch Aleksej um 1916 Erste russ. Pfadfinder - Standarte Russischer Pfadfinder (1910)
Bereits im Dezember 1910 besuchte Baden-Powell die russischen Pfadfinder und Oleg Pantjuchow in St. Petersburg. Er wurde auch von Zar Nikolaus II. empfangen. Nach seinem Besuch in St. Petersburg reiste BiPi nach Moskau, wo sich inzwischen auch Pfadfinder organisiert hatten.
Im selben Jahr hatte der Lehrer B. Janchewatski ein Magazin mit dem Namen „Student“ herausgebracht. Darin erhielten die Pfadfinder eine eigene Kolumne, wodurch der Bekanntheitsgrad der Pfadfinderbewegung in Russland stieg.
Nach dem Besuch mehrerer Pfadfinderorganisationen im Ausland veröffentlichte Oleg Pantjuchow 1911 sein Buch ПАМЯТКА ЮНАГО РАЗВѢЧИКА (Pamjatka Junago Raswedtschika oder Merkbuch für junge Pfadfinder), welches auf Baden-Powell´s Buch Scouting for Boys basierte. Das Buch fand reißenden Absatz.
Eigenartigerweise untersagte die Regierung 1911, die Gründung eines gesamt-russischen Pfadfinderbunds mit einer zentralen Führung. Stattdessen wurde im September 1914 eine Fördergesellschaft mit dem Namen „Russkij Skaut“ zugelassen. Im Sommer 1912 führte W. G. Jantschewatzki ein erstes Pfadfinderlager mit einer unbekannten Zahl von St. Petersburger Pfadfindern durch. Austragungsort war Lachta in der Nähe der russischen Hauptstadt. Auch 1913 soll es ein Lager gegeben haben. Wo, ist unbekannt. 1915 wurde ein Pfadfinderlager in Wyritza, südlich von Pawlowsk abgehalten. Von den 3 Lagern sind keine philatelistische Belege bekannt.
Lager St. Petersburger Pfadfinder um 1915 O. Pantjuchow (Mitte) mit Pfadfinderführern 1916
Plakat zum St. Georgstag am 26. November 1914
Die russische Mädchen interessierten sich anfangs kaum für die Pfadfinderbewegung. Das änderte sich nach Ausbruch des I. Weltkriegs als die russische Bevölkerung von einem bisher nicht dagewesenen Patriotismus erfasst wurde. Mädchen aus den oberen Klassen der Schulen und von den Universitäten ließen sich zu Krankenschwestern ausbilden, um an der Front und in den Hospitälern zu helfen. Außerdem schlossen sich viele hundert Jungen, die zu jung für den Militärdienst waren, den Pfadfindern an, um z.B. Eisenbahnzüge mit Verwundeten zu entladen, Bahnhöfe zu bewachen und bei den Behörden Dienst zu leisten. Vor Beginn der Oktober-Revolution wurden in Russland über 50.000 Pfadfinder und Pfadfinderinnen, die zumeist aus bessergestellten Familien stammten, in 143 Orten einschl. Sibirien gezählt.
Anfang 1915 veröffentlichte ein Dr. A. K. Anochin in Kiew ein Buch mit dem Titel „Sputnik Junaga Raswedtschika oder Begleitbuch für junge Pfadfinder“), welches auch bei der Schulbehörde Beachtung fand. Das Ergebnis war, dass im November des Jahres die erste Mädchen-Pfadfindergruppe (russ. Druschina) in Kiew gegründet wurde.
Ende Dezember 1915 wurde der erste allrussische Pfadfinderkongress in St. Petersburg abgehalten. Allerdings waren nur wenige Gruppen vertreten. Gesprächspunkte waren u.a. die Pfadfindergebote, das Versprechen und die Organisation der Führung. Ein zweiter Kongress fand im darauffolgenden Jahr, wieder Ende Dezember und in St. Petersburg, statt. Ausgerichtet wurden die beiden Zusammenkünfte von der Fördergesellschaft.
Foto vom Pfadfinderkongress 1915 in St. Petersburg
2 Pfadfinder – Sonderpostkarten aus 1914/15
Pfadfinderpostkarte aus 1915 (man beachte das „Spielzeug“)
Durch die militärischen Misserfolge, die wachsende Verschlechterung der Versorgung der Bevölkerung und die anhaltende Unterdrückung der Opposition kam es 1917 zur sog. Februarrevolution, die zum Sturz von Zar Nikolaus II. führte und die Bildung einer bürgerlich-liberalen, demokratischen Regierung ermöglichte. Russland war Republik geworden.
Die Veränderung beeinflusste die Pfadfinderbewegung kaum. Auch der spätere Staatsstreich, die sog. Oktoberrevolution, beeinträchtigte die Pfadfinder anfangs nur wenig. Ein legales Bestehen war vielfach möglich. Das änderte sich erst, nachdem am 19. Mai 1922 die kommunistische Pionierorganisation gegründet worden war. Die Pfadfinder und alle andere Jugendverbände wurden verboten. Der Versuch einiger Pfadfinderführer, die Pfadfinderbewegung zu retten, indem man ihr den Namen „Union Junger Kommunisten“ gab, scheiterte.
Abzeichen der Pioniere
Bis 1926 konnten sich Pfadfinder in der inzwischen gegründeten Sowjetunion im Untergrund halten.
Auf einer Pfadfinderkonferenz vom 29. Sept. bis 1. Okt. 1919 in Nowotscherkassk, einer Stadt nordöstlich der Krim, wurde Oleg Pantjuchow auf Lebenszeit zum Chief Scout der russischen Pfadfinder gewählt. Seine Wahl wurde 1920 Im Exil in Konstantinopel, in das viele tausend russische Familien vor dem Bürgerkrieg geflohen waren, bestätigt. In den Gebieten, die von der „Weißen“ Armee kontrolliert wurden, konnten sich vereinzelt Pfadfindergruppen halten. Aber die Gebiete wurden immer kleiner. Im November 1920 musste die Krimhalbinsel als letzte Bastion in Europa und im Oktober 1922 Wladiwostok am äußersten Ende Sibiriens geräumt werden. Der Sieg der Kommunisten bedeutete das Ende der Pfadfinderbewegung in Russland.